Digital Twin Technologie für Smart Manufacturing und Industrie 4.0: Ergebnisse einer bibliometrischen Analyse

Von Lennart Ante

Künstliche Intelligenz (KI) und Internet of Things (IoT) stellen neben der Blockchain-Technologie dominierende Themen in der Digitalisierung dar. Neben diesen Begriffen fällt regelmäßig die Bezeichnung Industrie 4.0, die einem Großteil unserer Gesellschaft geläufig ist. Weitaus weniger bekannt ist, dass in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik bereits über das nächste Buzzword, die sogenannte Industrie 5.0, gesprochen wird. Aber dazu vielleicht in einem der kommenden Blog-Posts mehr.

Innovation ist selten das Ergebnis einer einseitigen Betrachtung, eines speziellen Sachverhaltes oder einer spezifischen Technologie. Vielmehr ist Innovation das Ergebnis der Betrachtung, Untersuchung und Analyse komplexer Sachverhalte und Zusammenhänge. Folglich finden die wechselseitigen Interdependenzen zwischen Wirtschaft, Politik, Recht und Gesellschaft regelmäßig ihren Einklang in wissenschaftlichen Forschungsprojekten.

Obgleich unser Name anderes vermuten lässt, beschäftigen auch wir beim Blockchain Research Lab uns regelmäßig mit verbundenen Themen und Technologien. Ebenso wie viele andere WissenschaftlerInnen erachten wir es als eine der wichtigsten Aufgaben über den eigenen Tellerrand hinaus zu schauen. Denn nur auf diese Weise lassen sich relevante Themen, Technologien und Entwicklungen identifizieren, verstehen, erklären und im richtigen Kontext in unsere Forschungsprojekte, Überlegungen und Veröffentlichungen integrieren.

Die Blockchain-Technologie stellt mit ihren Anwendungen sowie den aus ihr resultierenden neuen Märkten und Prozessen eine essentielle Säule der Digitalisierung dar, nicht jedoch die einzige. Folglich ist es wichtig, sie stets vor dem Hintergrund anderer Technologien und Entwicklungen zu analysieren, um ihre Chancen, Risiken und Potentiale adäquat bewerten zu können.

Im Nachfolgenden möchten wir Ihnen hierzu gern ein Beispiel aufführen, bei dem wir eine bibliometrische Literaturanalyse durchgeführt haben. Die systematische Analyse, Durchsicht und Zusammenfassung wissenschaftlicher Literatur und Referenzen ermöglicht es uns und unseren Lesern, Themenbereiche besser und schneller zu verstehen.

Im Rahmen des vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) geförderten Forschungsprojekts STEREO, haben wir uns mit dem Thema Digitale Identitäten befasst. In diesem Zusammenhang kann die Blockchain-Technologie in Form der sogenannten Self-sovereign Identity (SSI) eine sichere technologische Basis für spezielle Anwendungen  darstellen. Gleichwohl stellt sie in diesem Kontext nicht die einzige relevante Zukunftstechnologie dar, Neben ihr gibt es noch weitere, zukunftsträchtige Technologien mit hoher (und voraussichtlich zunehmender) Relevanz für das Thema Digitale Identitäten. Eine davon möchten wir in diesem Beitrag gern genauer betrachten. Sie nennt sich  Digital Twin und  wird im Deutschen auch als Digitaler Zwilling bezeichnet .

Die Digital Twin Technologie umfasst digitale Abbilder, Replikate oder Identitäten von physischen Systemen, Objekten oder Anlagen, die beispielsweise für das industrielle Health-Monitoring oder die Prozessoptimierung und -verfolgung genutzt werden können. Im Rahmen unseres in der Zeitschrift Manufacturing Letters veröffentlichten Artikels „Digital Twin technology for smart manufacturing and Industry 4.0: A bibliometric analysis of the intellectual structure of the research discourse“ wurden die intellektuellen Diskurse der akademischen Forschung zum Thema Digital Twin untersucht. Dazu wurden 23.419 Referenzen von 647 peer-reviewed Publikationen zum Thema Digital Twin mittels bibliometrischer Methoden empirisch analysiert, um Zusammenhänge und Forschungsströme zu identifizieren, aus denen wir Erkenntnisse für unsere künftigen Forschungsprojekte ableiten können.

Bei einem „Forschungsstrom“ handelt es sich in diesem Kontext um einen thematischen beziehungsweise intellektuellen Teilaspekt innerhalb eines wissenschaftlichen Themenbereichs. Wir identifizieren Forschungsströme anhand der Ähnlichkeit der Literaturangaben von Publikationen. Hierbei gilt vereinfacht ausgedrückt die Regel: Je mehr gleiche Quellen in Artikeln referenziert werden, desto größer deren thematische Nähe und statistische Wahrscheinlichkeit in dem gleichen Forschungsstrom angesiedelt zu sein.

Die Analyse führte zu sieben wesentlichen Forschungsströmen, welche wir nachfolgend in Kürze beschreiben und zusammenfassen:

1. Digital Twin als Paradigma für die virtuelle Repräsentation von realen Systemen

Dieser Diskurs umfasst ca. 33% der identifizierten Publikationen und erklärt etwas über 19% der Varianz. Die Varianz zeigt auf, wieviel Prozent des gesamten wissenschaftlichen Diskurses durch einen Forschungsstrom erklärt werden. Zusammengefasst handelt es sich dabei um folgende Themen:

  • Einführung und Beschreibung des Digital Twin Konzepts
  • Einsatz von Modellen und Daten mit Digital Twin
  • Identifizierung von Chancen, Vorteilen und Herausforderungen, die mit Digital Twin Technologie verbunden sind
  • Thematischer Fokus auf Gesundheitsdatenmanagement und Echtzeit-Überwachung von Flugzeugsystemen (Health-Monitoring)

Bedeutende Publikationen dieses Forschungsstroms sind unter anderem Boschert et al. (2018)Glaessgen & Stargel (2012)Rosen et al. (2015)Tao et al. (2018) und Grieves (2014).

2. Digital Twin für Fertigungsprozesse und Mensch-Roboter-Kollaboration

Dieser Diskurs umfasst ca. 20% der identifizierten Publikationen und erklärt etwas mehr als 13% der Varianz. Zusammengefasst handelt es sich hierbei um folgende Themen:

  • Digital Twin getriebene cyber-physische Systeme (CPS) in der Fertigung und Mensch-Roboter-Kollaboration (MRK) (z. B. Montagelinien, Shopfloors, etc.)
  • Verbesserung der Nachhaltigkeit und Überwachung von Produktionsprozessen auf der Basis von Digital Twin

Wichtige Publikationen stellen Caputo et al. (2019), Nikolakis et al. (2019)Tao & Zhang (2017), Zhang et al. (2017) oder Park et al. (2019) dar.

3. Cyber-physische Systeme zur Koordination zwischen physischen und digitalen Elementen

Als drittgrößter Forschungsstrom erklärt der Diskurs ca. 9% der Varianz und umfasst ca. 14% der identifizierten Publikationen. Folgende Themen werden hierzu insbesondere behandelt:

  • Cyber-physische Systeme zur Überwachung und Synchronisation von Daten zwischen physischem und Cyber-Raum
  • Digital Twin als Schlüsseltechnologie für Cyber-physische Systeme
  • Relevanz verschiedener Technologien oder Methoden für Cyber-physische Systeme (z.B. Cloud Computing, Deep Learning, AutomationML, Big Data)
  • Prototypen und Machbarkeitsstudien im Kontext von cyber-physischen Systemen

Bedeutsame wissenschaftliche Publikationen des Forschungsstrom sind unter anderem Monostori (2014), Wang et al. (2015), Monostori et al. (2016), Negri et al. (2017) oder Schroeder et al. (2016). 

4. Industrie 4.0 für Automatisierung in der Fertigung und industrieller Praxis

Dieser Diskurs umfasst ca. 11% der identifizierten Publikationen und erklärt 7% der Varianz Zusammengefasst handelt es sich hierbei um folgende Themen:

  • Beschreibung von Industrie 4.0, d.h. Fertigungs- und Industrieinnovation durch den Einsatz von Smart Tools
  • Literaturanalysen zur Entstehung von Industrie 4.0 sowie verwandten Konzepten und Themen
  • Fertigungssysteme im Kontext von Industrie 4.0

Wesentliche Veröffentlichungen sind beispielsweise Qi & Tao (2018), Theorin et al. (2017), Sanders et al. (2016) oder Liao et al. (2017).

5. Extraktion und Matching von Beziehungen im sozialen Fertigungskontext

Insgesamt umfasst der Diskurs 8% der identifizierten Publikationen und erklärt 7% der Varianz. Die behandelten Themen sind:

  • Nutzung und Transformation großer, unstrukturierter Datensätze zur Steigerung der Effizienz von Fertigungsprozessen
  • Dezentralisierung und Sozialisierung des Fertigungsparadigmas
  • Outsourcing, Planung und Kollaboration in einem sozialen Fertigungskontext

Bedeutende Veröffentlichungen sind beispielsweise Liu et al. (2019), Leng et al. (2019), Leng & Jiang (2016) oder Leng & Jiang (2016).

6. Fortschritte in der Computer- und Kommunikationstechnologie

Dieser Diskurs beinhaltet 5% der identifizierten Publikationen und erklärt 4% der Varianz. Zusammengefasst handelt es sich hierbei um das Thema:

  • Fortschritte und Überblick über Computer- und Kommunikationstechnologien, z. B. IoT, Cyber-physische Systeme, Industrie 4.0, Machine-to-Machine (M2M), nachhaltige Fertigung, Edge Computing und Bildklassifizierung mit neuronalen Netzen

Bedeutende Publikationen des Forschungsstroms sind unter anderem Al-Fuqaha et al. (2015), Hehenberger et al. (2016), Stock & Seliger (2016) oder Lee et al. (2014).

7. Optimierung der geometrischen Variation bei Punktschweißsequenzen

Dieser im Vergleich kleinste Diskurs umfasst 4% der untersuchten Publikationen und erklärt 4% der Varianz. Thematisch behandelt er:

  • Methoden, Algorithmen und Simulationen zur Geometriesicherung in Punktschweißsequenzen oder Blechbaugruppen
  • Digital Twin zur Echtzeitsimulation von Punktschweißsequenzen

Wichtige Veröffentlichungen sind Söderberg et al. (2017), Wärmefjord et al. (2010), Tabar et al. (2019) oder Liu & Hu (1997).

Die Prävalenz der einzelnen Forschungsströme in der Zeit von 1997 bis 2019 ist abschließend in der nachfolgenden Grafik dargestellt.

Unsere Analyze zeigt, dass sich das wissenschaftliche Umfeld zum Thema Digital Twin stark auf Grundlagenforschung fokussiert. Dabei ist auffällig, dass insbesondere Veröffentlichungen, die innerhalb der letzten fünf Jahre veröffentlicht wurden, das gegenwärtige Forschungsumfeld prägen. Hier bieten sich spannende Ansätze für neue Forschungsprojekte, wie zum Beispiel:

  • Die Erforschung kollaborativer beziehungsweise unternehmensübergreifender Ansätze der Digital Twin Technologie auf Basis dezentraler Infrastrukturen wie Blockchain oder Prozessautomatisierung anhand von Smart Contracts. Obgleich die Abbildung und Überwachung aller Systeme einer Supply Chain durch den Einsatz von Digital Twin(s) über unterschiedliche Unternehmen sowie rechtliche Geltungsbereiche hinweg zunächst eine komplexe Herausforderung darstellt, könnte deren Lösung im Ergebnis signifikante Effizienzpotenziale für Lieferketten freilegen.
  • Die Nutzbarmachung von Digital Twin Daten im Kontext der akademischen Forschung oder der Produkt- und Systementwicklung. Bei Digital Twin Daten handelt es sich dem Grunde nach um sensible Daten, weshalb Unternehmen nur ein bedingtes Interesse an deren Offenlegung haben. Folglich könnte sich ein mögliches Forschungsprojekt mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit und unter welchen Bedingungen Informationen und Daten durch einen Treuhänder verwaltet, standardisiert und nutzbar gemacht werden könnten. Dabei könnte ein Treuhänder gleichermaßen zum Beispiel durch ein zentrales Unternehmen oder aber ein Protokoll (wie z.B. Blockchain und Smart Contracts) repräsentiert werden. Unabhängig von der Wahl des Treuhänders, stellt die ökonomische Anreizsetzung eine wesentliche Herausforderung dar, denn die Bereitschaft von Unternehmen ihre Daten zu teilen, muss durch gezielte Anreizsysteme erhöht/ stimuliert werden.

Als Leser der vollständigen Studie erhalten Sie einen Überblick über wesentliche wissenschaftliche Forschungsströme, bedeutende Publikationen sowie die Entwicklung des Forschungsumfelds. Hierdurch können Suchkosten reduziert, Ansätze für zukünftige Forschung offengelegt und ein grundsätzliches Verständnis der Digital Twin Technologie erlangt werden.

Die Veröffentlichung des Artikels in der Zeitschrift Manufacturing Letters finden Sie unter diesem Link. Der Zugriff auf den Artikel bedingt eines Abonnements beim Elsevier Verlag.  Sollten Sie an einem gemeinsamen Austausch oder einem Projekt zu dem Thema mit uns Interesse haben, freuen wir uns von Ihnen zu hören.